Für den anstehenden Strukturwandel in den Kohleregionen gibt es nicht nur historische Vorbilder, auch die Ziele sind bekannt: die soziale Absicherung derer, die ihren Job verlieren, und gezielte Investitionen in die wirtschaftliche Neuausrichtung, um die regionale Abhängigkeit von der Kohleindustrie abzubauen.
Der Begriff „Strukturwandel“ wirkt auf Betroffene oft verharmlosend. Denn er wird zumeist dann verwendet, wenn es um tiefgreifende strukturelle Probleme einer Regionalwirtschaft geht. Strukturwandel findet statt, wenn althergebrachte Wirtschaftsstrukturen unter neuen Bedingungen nicht mehr bestehen können. Regionen sind besonders anfällig, wenn sie von wirtschaftlichen Monostrukturen wie der Kohleindustrie abhängig sind. Oft bedeutet Strukturwandel daher das Wegbrechen ganzer Wirtschaftszweige, verfallende Infrastruktur, Arbeitsplatzverluste und Abwanderung. Der Kohleausstieg in Deutschland wird daher sicherlich nicht schmerzlos ablaufen. Dennoch hat Deutschland im Umgang mit dem Strukturwandel bereits viele Erfahrungen gesammelt, auf denen man aufbauen kann. Der Großteil des Strukturwandels im Kohlesektor ist bereits bewältigt worden. Die größten sozialen Härten aus dem Niedergang des Steinkohlebergbaus in Nordrhein-Westfalen und im Saarland seit den 1960er-Jahren sind bereits überwunden. Das Gleiche ist bei der ostdeutschen Braunkohleindustrie der Fall. Aktuell arbeiten noch gut 27.000 Menschen im Kohlesektor. 1957 waren noch über 600.000 Beschäftigte in der Steinkohleförderung tätig und 1990 noch knapp 130.000 in der Braunkohleindustrie. Verglichen damit erscheint der sozialverträgliche Abbau der restlichen Kohlearbeitsplätze durchaus bewältigbar.
Zudem handelt es sich beim Kohleausstieg, wie er aktuell diskutiert wird, um einen politisch steuerbaren Prozess. Ein langfristiger Ansatz kann hier Planungssicherheit für die Betroffenen schaffen. Beim Zusammenbruch der Steinkohleförderung und der ostdeutschen Braunkohleindustrie hingegen bestand akuter Zeitdruck. Es drohte das Wegbrechen einer ganzen Branche, die im freien Wettbewerb nicht mehr bestehen konnte. Es ist daher als strukturpolitischer Erfolg zu werten, dass sich soziale Verwerfungen trotz des einschneidenden Strukturwandel zumindest abfedern ließen.
Die Politik: weder allmächtig noch machtlos
Historisch hat Deutschland mit aktiver Strukturpolitik auf solche Prozesse reagiert. Strukturpolitik ist ein breites Feld und umfasst sowohl wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen als auch Handlungsfelder wie Städtebau, Raum- und Stadtplanung, Arbeits- und Kulturpolitik sowie Energie- und Umweltpolitik. Einheitlich ist dabei lediglich das Ziel, die Auswirkungen des Strukturwandels abzufedern respektive diesen in eine positive Richtung zu lenken.
Aus historischer Sicht steht der deutsche Ansatz in scharfem Kontrast beispielsweise zum britischen Vorgehen, wo eine aktive Strukturpolitik als Marktintervention traditionell lange verpönt war. Insbesondere zu Zeiten der Thatcher-Regierung ließ man die britische Kohleförderung schlicht kollabieren, was 1984/1985 zu einem langanhaltenden Bergarbeiterstreik führte und dramatische soziale Konsequenzen hatte, die bis heute spürbar sind.
Die wohl prominentesten Beispiele groß angelegter Strukturpolitik in Deutschland sind die diversen Regionalförderungsprogramme im Ruhrgebiet sowie der „Aufbau Ost“. Beide gelten gemeinhin als erfolgreich, obwohl Probleme wie die soziale Ungleichheit zwischen dem nördlichen und südlichen Ruhrgebiet und das Ost-West-Lohngefälle weiterhin bestehen. Das zeigt, dass Einflussmöglichkeiten der Politik auf Strukturwandelprozesse prinzipiell begrenzt sind. In der Regel lassen sich negative Strukturentwicklungen höchstens abfangen, nicht aber aufhalten oder umkehren. Zwar kann die Stärkung bestehender und neuer Wirtschaftsbereiche angeregt werden, aber es lassen sich nicht im Eilverfahren neue Industriezweige aus dem Boden stampfen.Zentraler Bestandteil des deutschen Ansatzes war in beiden Fällen die Abfederung sozialer Härten für unmittelbar Betroffene. Für die Begleitung des jahrzehntelangen Ausstiegs aus dem Steinkohlebergbau wurde eine Anpassungsbeihilfe eingerichtet, die jüngere Beschäftigte bei der Arbeitsplatzsuche unterstützte, sowie ein Anpassungsgeld, das die Frühverrentung älterer Arbeitnehmer(innen) förderte. 2016 wurden hierfür noch 106 Millionen Euro ausgegeben. Auch in den ostdeutschen Braunkohlerevieren wurde aktiv politisch interveniert. Durch Maßnahmen wie flächendeckende Frühverrentung und Sozialpläne konnte den ehemaligen Beschäftigten ein relativ hohes Maß an sozialer Absicherung gewährt werden. Klar ist aber, dass langfristig gerade in stark von der Kohleindustrie abhängigen Regionen eine wirtschaftliche Neuausrichtung erfolgen muss. Dies war bislang in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet sehr viel erfolgreicher als in der Lausitz. Das Ruhrgebiet hat sich zu einer Region mit diversifiziertem wirtschaftlichen Profil, stark wachsendem Dienstleistungssektor und führenden Hochschulen entwickelt.
Eine Region erfindet sich neu
In Mitteldeutschland gelang es, wissensintensive Wirtschaftszweige wie Optik und Halbleitertechnik, Biotechnologie und Mikroelektronik anzusiedeln respektive auszubauen. Dabei konnte die Politik auf existierende Infrastruktur setzen, denn der Braunkohletagebau und die damit verbundene Stromerzeugung hatten jahrzehntelang die Chemie-Großindustrie sowie den Maschinen- und Schienenfahrzeugbau befeuert. Auch hatten sich Dienstleistungsbranchen dank der Leipziger Messe in der Region etablieren können. Auf Grundlage bestehender lokaler Wertschöpfungsketten konnte der Strukturwandel erfolgreich ablaufen, auch wenn in den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung die Braunkohleförderung im Mitteldeutschen Revier um fast 80 Prozent zurückging, was die Region in eine tiefe Krise stürzte. Der wirtschaftliche Einbruch wurde zunächst über den Einsatz öffentlicher Mittel, etwa für Forschungs- und Kultureinrichtungen, abgefedert. Später siedelten sich die Neue Messe in Leipzig, der Logistikstandort Flughafen Leipzig-Halle und die Automobilindustrie (Porsche, BMW) an. Dies ermöglichte den bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung der Region in jüngster Vergangenheit.
Das Beispiel zeigt, dass es essenziell für die wirtschaftliche Diversifizierung ist, den Wandel frühzeitig aktiv anzugehen. Versuche des Wiederaufbaus von schrumpfenden Branchen haben sich in der Vergangenheit als kostspielige Irrwege erwiesen. Das Aktionsprogramm Ruhr beispielsweise leitete von 1974 bis 1984 vor dem Hintergrund eines kurzfristigen konjunkturellen Aufschwungs der Montanindustrie Milliarden in die Modernisierung des Steinkohlebergbaus und der Stahlproduktion. Das konnte den Abwärtstrend aber nicht aufhalten und verzögerte die dringend notwendige wirtschaftliche Diversifizierung des Ruhrgebiets.
Von der Schwerindustrie zur Wissensökonomie
Die grundsätzliche Herausforderung regionaler Strukturpolitik ist, die richtigen wirtschaftlichen Schwerpunkte zu setzen und eine wirtschaftliche Nische zu finden, die eine Region angesichts ihrer Ausgangssituation erfolgreich füllen kann. Das muss über die oft genannten Stichpunkte Industrie- und Ökotourismus klar hinausgehen. Es gibt hierfür zwar kein allgemein gültiges Patentrezept, aber insgesamt ist klar, dass die Entwicklung weg von traditioneller Schwerindustrie hin zur modernen Dienstleistungs- und Wissensökonomie gehen muss. Die gezielte Förderung von wirtschaftlichen Wachstumskernen auf Basis von realistischen Potenzialanalysen, gemeinhin als „Kompetenzfeldförderung“ bezeichnet, hat sich als Leitkonzept der Strukturpolitik durchgesetzt. Hierbei sind allerdings gerade in ländlichen Gegenden, die bei der wettbewerblichen Mittelvergabe gegenüber urbanen Räumen oft benachteiligt sind, gewisse Mindeststandards an öffentlicher Infrastruktur und Lebensqualität sicherzustellen. Auch „weiche“ Standortfaktoren sind essenziell, um eine Region für Fachkräfte und Unternehmen attraktiv zu machen.
Besonders gut lässt sich ein erfolgreicher Strukturwandel im ländlichen oder vormals nicht infrastrukturell erschlossenen Raum am Beispiel der Oberpfalz illustrieren. Jahrzehntelang war die Oberpfalz als Zonenrandgebiet mit im Niedergang begriffenen Branchen wie der Textilindustrie in den 1970er-Jahren und der Glas- und Porzellanindustrie in den 1990er-Jahren wirtschaftlich ausgeblutet. Die Kehrtwende beim Strukturwandel brachten die Errichtung der Universität Regensburg und die Investitionen von BMW in das neue Regensburger Werk im Jahr 1986. Seither produzieren hier zahlreiche weitere Unternehmen von Weltrang, einschließlich aus der Biotechnologiebranche. Von besonderer Bedeutung war auch das Aus für die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, in die jahrelang Infrastrukturinvestitionen geflossen waren, was der Oberpfalz Europas besterschlossenes Industriegebiet bescherte. Vom Gelingen des Strukturwandels in der Oberpfalz zeugt der Rückgang der Arbeitslosenquote in der Stadt Bad Kötzting von 47,2 Prozent im Februar 1985 auf lediglich 1,9 Prozent im Juni 2015. Wichtigster Erfolgsfaktor für diese Entwicklung war der jahrzehntelange Einsatz von Bundes- und EU-Fördermitteln. Die Voraussetzung für diesen erfolgreichen Strukturwandel waren Investitionen in die Infrastruktur – Verkehrswege, Energieversorgung, Bildungs- und Forschungseinrichtungen – sowie in die Wirtschaftsförderung.
Öffentlichkeit beteiligen
Bei langfristig angelegten Strukturwandelprozessen wie dem Kohleausstieg ist es essenziell, Planungssicherheit für alle Betroffenen zu schaffen. Politische Rahmenvereinbarungen haben sich hierfür bewährt. Die schrittweise Reduzierung der Steinkohlesubventionen und der damit einhergehende Beschäftigungsabbau wurden beispielsweise in mehreren „Kohlerunden“ ausgehandelt. So wurde das Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland bis 2018 mit einer Eckpunktevereinbarung im Jahr 2007 zwischen dem Bund, dem Saarland, dem Land Nordrhein-Westfalen sowie der Ruhrkohle AG und der zuständigen Gewerkschaft, der IG Bergbau, Chemie, Energie, besiegelt. Insbesondere die Einbeziehung der Betroffenen erwies sich hier als ausschlaggebend, um Legitimität für den anstehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel zu schaffen.
Diese historische Erfahrung zeigt, dass ein sozialverträglicher Kohleausstieg von der aktiven Gestaltung eines solchen Prozesses durch die Sozialpartner abhängen wird, und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem Bund und den betroffenen Ländern, Landkreisen und Kommunen. Strukturfördermaßnahmen müssen die soziale Absicherung derjenigen gewährleisten, die ihren Arbeitplatz verlieren werden oder mit einer Frühverrentung konfrontiert sind; sie müssen auch Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen für diejenigen finanzieren, die noch mitten im Arbeitsleben stehen. Im Gegensatz zu früheren Prozessen ist allerdings heute eine sehr viel breitere Öffentlichkeit einzubeziehen. Dies genügt nicht nur dem Anspruch, die Beteiligung der Öffentlichkeit zu einem Kernelement der Energiewende zu machen. Beteiligungsprojekte im Kontext des Strukturwandels können auch eine stärkere Teilhabe der Bevölkerung an regionalen Transformationsprozessen bewirken und kreative Mitgestaltungskräfte entfachen. Von entscheidender Bedeutung für einen erfolgreichen Strukturwandel sind allerdings gezielte und politisch flankierte Investitionen, die den Transformationsprozess überhaupt erst ermöglichen.
This article was originally published as:
Schulz, Sabrina and Julian Schwartzkopff (2017): ‘Das Neue fest im Blick. Strukturpolitik in den deutschen Kohleregionen‘, in: Kursbuch Kohleausstieg: Szenarien für den Strukturwandel. politische ökologie Band 149. Oekom Verlag.